Jürg Schubiger

Originalversion

Jürg Schubiger: Dankesrede bei der Verleihung des Hans-Christian Andersen-Preises 2008 in Kopenhagen

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Ihre Königliche Hoheit, Königin Margrethe, sehr verehrte Damen und Herren von IBBY, sehr verehrte Mitglieder der Jury, sehr verehrte Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer, liebe Vertreterinnen des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien, liebe Freundinnen und Freunde.


Die Nachricht, dass die Jury mich für den Andersen Autorenpreis
2008 ausersehen hatte, erreichte mich auf Umwegen. Ich war für eine Lesung nach Graz gefahren. Die Veranstaltung fand am dem Abend statt, als in Bologna die Entscheidung fiel. Meine Frau fand die Mitteilung auf unserem Telefon-Beantworter. Sie wusste nicht, wie sie mich erreichen konnte. Ich hatte vergessen, ihr die Hoteladresse zu hinterlassen, was sonst ja zu den Abschiedsgeschäften gehört. Ausserdem lebe ich ohne Handy. Etwas später bekam sie einen Anruf von Franz Hohler, meinem Freund und zeitweiligen Schreibpartner: Weisst du es schon? Er war im Literaturhaus Graz mehrmals Gast gewesen und erinnerte sich, wo er untergebracht worden war: im Schlosshotel. Meine Frau rief dort an. Ich war noch nicht von der Lesung zurück. Der Nachtportier wusste zuerst nicht recht, was tun. Dann schlug er vor, eine Notiz zu schreiben, die er mir unter der Zimmertür durchschieben konnte. Als ich schliesslich in mein Zimmer kam, fand ich ein Blatt, das sich in der Zugluft kurz vom Boden hob, mit farbigem Filzstift beschrieben wie die Einladung zu einem Kindergeburtstag: "Herzliche Gratulation! Andersen-Preis gewonnen!" Die kuriose Form der Nachricht passte zu meinem Gemütszustand. Hier war etwas passiert, das offensichtlich zu einer Wirklichkeit, ich wusste nur nicht zu welcher, gehörte.


Ich habe diese umständliche Geschichte erzählt, weil ich überzeugt bin, dass die glücklichen Dinge uns auf Umwegen erreichen. Der direkte Weg – vom Lebensplan zum Lebensziel etwa (an den z.B. Heinrich von Kleist in seinen früheren Jahren noch heftig glaubte) oder vom Wunsch zur Erfüllung (an den wir alle von Zeit zu Zeit zu glauben versucht sind) endet bestenfalls in einer hilfreichen Enttäuschung oder Ernüchterung. Das hat uns Hans Christian Andersen in seinem Märchen "Die Galoschen des Glücks" ausführlich vor Augen geführt.


Zwei Feen, die Sorge und eine unerfahrene Abgesandte des Glücks, berichten über ihr Tagwerk. Die Glücksfee sagt, sie sei eben daran, ein Paar besondere Galoschen auszuprobieren. Wer sie trägt, wird sofort dahin versetzt, wo er sich hinwünscht. Die Glücksfee rechnet mit einem grossartigen Ergebnis: endlich werde der Mensch hienieden einmal glücklich werden. Die Sorge ist vom Gegenteil überzeugt. Männer verschiedenen Standes finden sich nacheinander in diesen Galoschen. Es kommt zu einer Reihe unterschiedlicher, meist alptraumartiger Abenteuer – und nebenbei zu einer Revue des sozialen Lebens zu Andersens Zeit. Die erste Episode handelt von Justizrat Knap. Er hat sich in die Zeit von König Hans vertieft. Noch ganz in Gedanken verwechselt er an der Tür seine Galoschen mit denen des Glücks. Schon ist es geschehen: Er tritt in den Kot und Schlamm einer noch ungepflästerten Strasse. "Das ganze Trottoir ist weg", stellt er fest, "und alle Laternen sind ausgelöscht." In eine spätmittelalterliche Dunkelheit hinaus – die Luft war dick, der Mond noch nicht aufgegangen – ruft er nach einer Droschke. Gegen Ende einer ganzen Reihe von Widerfahrnissen gerät er in eine Spelunke. Zweifelhafte Frauen schenken ihm Met und Bremer Bier ein. Schliesslich sieht er nur noch einen Ausweg: er bückt sich unter den Tisch und kriecht auf die Tür zu. Doch seine Tischgenossen packen ihn an den Beinen. Dabei ziehen sie ihm die Galoschen aus – und mit diesen verschwindet der Spuk. Zwei Minuten später sitzt der Justizrat Knap in einer Droschke, glücklich über die Rückkehr in seine Zeit, die, denkt er, trotz ihren Mängeln doch weit besser ist als jene andere, aus der er eben herkommt. "Und seht", sagt der Dichter zum Schluss, "das war vernünftig vom Justizrat."


Die Sorge behält recht: jeder Benützer der Galoschen des Glücks ist am Ende froh, das tückische Schuhwerk wieder loszuwerden. Und dabei bleibt es. Aber nur solange es um Wünsche und Galoschen geht. Über die Kräfte und Wege des Glücks ist damit noch lange nicht alles gesagt. Das deutet Andersen einleitend an, und nach all den wechselvollen, verschwenderisch ausgemalten Episoden hat man seinen Hinweis am Ende fast vergessen. Die Sorge, so heisst es am Anfang, geht immer in höchsteigener Person ihren Geschäften nach. Sie hat im Galoschen-Experiment keine ebenbürtige Gegenspielerin. Die zweite Fee ist nicht das Glück selbst, sondern "eines der Kammermädchen von einer seiner Kammerjungfern". Was ergäbe sich, wenn das Glück selber mitspielen würde? Diese entscheidende Frage, die Andersen so nicht stellt, dem Leser aber indirekt aufdrängt, bleibt offen.


Ich trage Ihnen in dieser Sache eine Geschichte vor, die vor 30 Jahren in meinem ersten, schmalen Kinderbuch erschienen ist:


Das Mädchen und das Glück


A girl left her home to find her luck. But she did everything wrong. When the village was lying behind her she took the road to the right instead of taking the road to the left. Then she went down the valley instead of climbing up the hill. She jumped over the fence instead of crawling underneath it. She petted a pig instead of feeding a chicken and taking one of its feathers. She crossed a river instead of following its course.  During all this time the girl sang different songs that she couldn’t even sing off by heart, instead of saying to herself, “Lucky me, lucky me, I’ll find my luck behind a tree.”


The path suddenly came to an end in a quarry. Here at the end of the path and leaning against a willow she found a new big red bicycle.  She got on the bicycle and cycled home.


What would have happened if she had taken the left road, if she gone left instead of going right, if she had climbed up the hill instead of staying in the valley, if she had crawled underneath the fence instead of jumping over it, if she had fed the chicken and taken one of its feathers with her instead of petting the pig, if she had followed the river instead of crossing it, if she had sung, “Lucky me, lucky me, I’ll find my luck behind a tree!”,  instead of singing different songs that she couldn’t even sing off by heart?


Ich habe mir überlegt, wie es wäre, wenn Hans-Christian Andersen den Hans-Christian Andersen-Preis überreicht bekäme. Wie er vor einem so internationalen Publikum dafür danken würde. Andersen sprach Dänisch und Deutsch. Als leidenschaftlicher Reisender kam er merkwürdigerweise mit anderen Sprachen nur mangelhaft zurecht. Seine grossen Lücken sollen ihn zu hinreissenden Wortpurzelbäumen angeregt haben. Verbeugungen kamen dazu und ein Schlenkern der überlangen Arme.


Grazie tanti. Saint-Honoré. Jeg er helt ude af flippen af glade og stolthed. 0 dear me! Ich danke Ihnen untertänigst für eine Auszeichnung, die ich zu verdienen hoffe mit dem, was künftig noch aus meiner Feder fliesst. IBBY urbi et orbi.


Herzlichen Dank.